MORITZ - Modulares Risk-Management durch Technologie-Analyse zur Versicherung stationärer Gasturbinen (Richard Grunke)
Ausgabe 6/96


Teil 1 - Grundlagen

2. Maschinenspezifische Risiken
ergeben sich - ohne besondere äußere Einflüsse - unmittelbar aus den in der Gasturbine vorhandenen Technologien, also Konstruktionsweisen, Werkstoffen, Herstellverfahren usw. Dabei handelt es sich überwiegend um Technologien, die entweder absolut neu sind, oder aus Flugtriebwerken stammen und im Bereich der Stationären Gasturbinen neu eingeführt wurden.

Die Technologien und ihre Risiken - einschließlich Reparaturrisiko - werden, nach Baugruppen geordnet, beschrieben.
Schwerpunkte sind die Heißteile von Brennkammer und Turbine, die die schadensträchtigsten Baugruppen einer Gasturbine darstellen.

Eine Gruppe solcher Technologien aus dem Turbinenteil, die direkt mit der Turbineneintrittstemperatur TIT (Turbine Inlet Temperature) verknüpft sind, können - je nach den vorliegenden Umständen - entweder einzeln betrachtet oder, über TIT, zusammengefaßt und indirekt berücksichtigt werden (siehe 2.2.2 ).

2.1 Brennkammer
In konventionellen Gasturbinen sind Brennkammern relativ einfache und unproblematische Bauteile. Vor allem durch Konzepte zur Schadstoffreduzierung wurden daraus komplexe, teuere und schadensträchtige Baugruppen mit ebensolcher Peripherie.

Brennkammerschäden sind deshalb so gefährlich, weil sie umfangreiche Folgeschäden in der Turbine bewirken können:

OOD (Own Objekt Damage), mechanische Beschädigung der Turbinenschaufeln durch Bruchstücke aus der Brennkammer
Bei Schmelzvorgängen im Brennkammerbereich verursacht die Metallschmelze schwere Turbinenschäden durch Erosion der Laufschaufeln und Materialaufschweißungen
Im Prinzip kann Schadstoffreduzierung durch Wasser-/ Dampfeindüsung oder DLE (Dry Low Emission) erreicht werden.
Wasser-/Dampfeindüsung zur Schadstoffreduzierung wird derzeit nicht als risikoerhöhend eingestuft.

2.1.1 DLE-Brennkammer
Andere Bezeichnungen:
Dry Low Emission
DryLowNOx
Trockene Vormischverbrennung

Durch die Magerverbrennung reagiert die Flammstabilität äußerst empfindlich auf Veränderungen im Brennstoff-Luft-Verhältnis.

Risiken
Oszillierende Verbrennung, vor allem bei gasförmigen Brennstoffen
dadurch
Erhöhte Schwingbelastung der Brennkammerkomponenten
dadurch
Schwingbrüche, z.B. an den Hitzeschilden, mit den oben genannten Folgeschäden
Erhöhte Schwingbelastung der Turbine
dadurch
Schwingbrüche und Folgeschäden im Turbinenbereich


2.1.2 Wasser-/Dampfeindüsung zu Leistungssteigerung
Andere Bezeichnungen:
STIG Steam Injected Gas Turbine
Cheng Cycle (Dampfeindüsung)
HAT Humid Air Turbine

Im Gegensatz zur Wasser-/Dampfeindüsung zur Schadstoffreduzierung werden hierbei wesentlich größere Mengen eingedüst.

Risiken
Höhere thermische Belastung der Heißteile durch höheren Wärmeübergang
Erosionsschäden bei Tropfenbildung in Brennkammer, Überleitstücken und Turbine. Diesbezüglich ist Wassereindüsung kritischer als Dampfeindüsung

Wasser-/Dampfeindüsung wird häufig zum uprating verwendet und ist dann besonders problematisch, wenn die Maschine nicht für die erhöhten Beanspruchungen ausgelegt ist:

Bei nachträglicher Umrüstung
Bei Verwendung vorhandener (zur Schadstoffreduzierung ausgelegter) Anlagen zur Leistungssteigerung:
"overwatering", siehe auch 3.1.6


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2.2 Turbine

2.2.1 TIT- verknüpfte Risiken
Die Turbineneintrittstemperatur TIT ist die wesentlichste Kennzahl zur Chakterisierung der Technologie einer Gasturbine.

Hier liegen einerseits die größten Chancen - eine Steigerung von TIT von 40°C steigert die Leistung um 10% und den Wirkungsgrad um 4% - aber auch die größten Gefahren: Eine Erhöhung der Materialtemperatur um nur 15°C kann die Bauteillebensdauer halbieren.

In den letzten 20 Jahren stieg die maximale TIT von ca. 800°C auf ca. 1300°C. Dies wurde durch Fortschritte bei Werkstoffen, Schutzschichten und Kühlkonzepten ermöglicht - und auf Kosten der Lebensdauer.

Die in diesem Abschnitt beschriebenen Technologien sollen möglichst hohe TIT bei möglichst geringem Kühlaufwand (der Leistung und Wirkungsgrad verschlechtert) ermöglichen. Außer der Dampfkühlung wurden alle Technologien für militärische Flugtriebwerke - mit extrem kurzen Lebensdauern - entwickelt, später in zivilen Flugtriebwerken und zuletzt im stationären Bereich übernommen.

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2.2.1.1 Gerichtet erstarrte Schaufeln
Andere Bezeichnungen:
Directional Solidified, DS

Bei diesem Schaufeltyp liegen die Korngrenzen im Metallgefüge, die Schwachstellen darstellen, parallel zur Schaufellängsachse und werden deshalb durch Fliehkräfte wenig belastet.

Risiken:
Starke Richtungsabhängigkeit der Eigenschaften, z.B.:
Wenn die Schutzschicht an der Schaufelspitze durch Anstreifen abgeschliffen wird, kann Oxidation / Korrosion entlang der Korngrenzen so weit fortschreiten, daß Stücke aus der Schaufel herausbrechen
Die Korngrenzen sind ideale Ausbreitungsbahnen für Thermoermüdungsrisse, die strahlenförmig von Kühlluftbohrungen ausgehen
Die Korngrenzen sind ideale Ausbreitungsbahnen für Oxidation / Korrosion in Schichtrissen, die in gleicher Richtung wie die Korngrenzen verlaufen
Löt-/Schweißreparaturen sind schwierig bis unmöglich, da dieser Gefügetyp durch Löten / Schweißen nicht reproduziert werden kann
Etwa doppelter Preis konventioneller Schaufeln


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2.2.1.2 Einkristall-Schaufeln
Andere Bezeichnungen:
Single-Crystal, SC

Diese Schaufeln bestehen aus einem einzigen Kristall ohne Korngrenzen.

Risiken:
Durch Spannungen / Verformungen und nachfolgender Einwirkung hoher Temperaturen kann der Einkristall rekristallisieren, d.h. Korngrenzen (= Schwachstellen) bilden
Starke Richtungsabhängigkeit der Eigenschaften, dadurch beispielsweise:
Erhöhte Verschleißgefahr an der Schaufelspitze
Schweißreparaturen sind schwierig bis unmöglich, da dieser Gefügetyp durch Löten / Schweißen nicht reproduziert werden kann
Etwa 2,5 - facher Preis konventioneller Schaufeln


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2.2.1.3 Hochtemperatur-Korrosions-Schutzschichten
Andere Bezeichnungen:
HTK-Schutzschichten
Heißgasschutzschichten

Aus der Vielzahl von Schichten und ihrer Bezeichnungen seien hier nur die wichtigsten genannt:

Aluminium-Diffusionsschutzschichten, Chromierschichten, MCrALY-Schichten (M steht für Nickel oder/und Kobalt), PtAl-Schichten.

Schutzschichten wurden notwendig, weil die Werkstoffe der Heißteile in Richtung Warmfestigkeit optimiert wurden und dadurch an Oxidations-/ Korrosionsbeständigkeit einbüßten. Diese Entwicklung ist bei Laufschaufeln abgeschlossen, bei Leitschaufeln im Gange.

Risiken (Auswahl):
Beschichtete Bauteile tendieren zu dramatischen Schadensentwicklungen: Ist die Schutzschicht durchbrochen, oxidiert/korrodiert der ungeschützte Grundwerkstoff beschleunigt
Schutzschichten neigen zu Rissbildung, dadurch:
Schäden durch Oxidation/Korrosion an offenen Rissen
Schwierige Interpretation von Rissanzeigen (betrifft der Riss nur die Schicht oder läuft er in den Grundwerkstoff?),
dadurch
Unnötiger Teileaustausch oder Übersehen gefährlicher Risse.
Schutzschichten müssen ca. alle 20.000 h erneuert werden,
dadurch:
hohes Risiko für die Bauteile durch Stripverfahren (Abziehen der alten Schichten)
schwierige Regeneration von Innenbeschichtungen


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2.2.1.4 Keramische Wärmedämmschichten
Andere Bezeichnungen:
WDS
Thermal Barrier Coating TBC
Thermobarriere
Keramikspritzschicht
Zirkonoxidschicht

Aufgebaut aus einer Haftschicht auf MCrALY-Basis und einer darüberliegenden keramischen Deckschicht.

Durch die wärmeisolierende Wirkung der Keramik wird der Wärmeübergang in die beschichteten Bauteile vermindert und dadurch die Bauteiltemperatur abgesenkt bzw. der Kühlluftbedarf reduziert.

Schichten unter 0,2 mm Dicke und auf konkaven Formen (Flammrohre, Überleitstücke) sind haltbarer als dickere Schichten bzw. Schichten auf konvexen Oberflächen (Leitschaufeln).Aufgedampfte Schichten sind haltbarer als Spritzschichten.

Risiken:
Gefahr des Abplatzens der keramischen Deckschicht durch
Thermoermüdung (spontanes Abplatzen)
Oxidation der Haftschicht (Langzeiteffekt) dadurch je nach Auslegung
Thermische Überlastung der beschichteten Bauteile
Wirbelbildung an Leitschaufeln, dadurch dynamische Überlastung von Turbinenteilen
WDS reagieren empfindlich auf Abweichungen bei der Fertigung. Fertigungsfehler sind aber schwer nachweisbar und zeigen sich meist erst im Betrieb
Bei Wiederbeschichtung Gefährdung der Bauteile durch Stripverfahren zum Abziehen der Haftschicht

Derzeit werden Wärmedämmschichten nicht als risikoverschärfend betrachtet,wenn sie
0,2 mm oder dünner sind
und
auf konkaven Flächen aufgebracht sind
oder wenn bei Abplatzungen keine gravierenden Folgeschäden zu erwarten sind


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2.2.1.5 Schaufelkühlung allgemein
Luftgekühlte Leit- und Laufschaufeln sind die Grundlage moderner Gasturbinentechnik. Gegenüber ungekühlten Schaufeln haben sie aber auch gravierende Nachteile:
Dramatische Schadensverläufe
Thermoermüdungsschäden durch scharfe Temperaturgradienten
Verschiedene Typen von Oxidation / Korrosion treten an einem Teil auf und können dadurch nicht gezielt verhindert werden
Schutzbeschichtung der Kühlkanäle ist problematisch
Schlechte Reparierbarkeit durch komplexe Geometrie


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2.2.1.6 Dampfkühlung
der Leit- und Laufschaufeln hat vielversprechende Vorteile beim Vorstoß in TIT-Bereiche um 1400° C. Diese Technologie wurde direkt für Stationäre Gasturbinen entwickelt, ohne vorherige Optimierung in Flugtriebwerken.

Risiken:
Völlig neue Technologie, mit der bisher keine Erfahrungen vorliegen
Aufgrund der extrem hohen TIT ist schon bei geringen Störungen der Kühltechnologie mit gravierenden Turbinenschäden zu rechnen
Auf den Markt kommen zunächst Prototypen, die erst noch durch Betriebserfahrung optimiert werden müssen


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2.2.2 TIT als Bezugsgröße
Aus verschiedenen Gründen kann es vorkommen, daß die obengenannten TIT-abhängigen Technologien nicht einzeln beurteilt werden können, z.B. wenn die erforderlichen Informationen nicht vorliegen oder unter Zeitdruck. Über die Höhe der TIT kann jedoch auf das technologische Niveau rückgeschlossen werden:

  • 650° C - 850° C:
    Ungekühlte Laufschaufeln, durchoptimierte Technologie
  • 850° C - 1100° C:
    Einfache Laufschaufelkühlung, beginnender Technologieaufwand nach Bedarf
  • 1100° C - 1300° C:
    Aufwendige Technologie, Optimierung noch nicht abgeschlossen
  • 1300° C - 1450° C:
    Prototypen


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2.2.3 TIT- unabhängige Risiken
betreffen Technologien, die nicht auf eine möglichst hohe TIT abzielen.

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2.2.3.1 Dampfeindüsung in die Turbine
dient der Leistungssteigerung (bis 30 %) und Wirkungsgradverbesserung, vor allem bei Teillast.

Risiken:
Höhere thermische Belastung der Heißteile durch höheren Wärmeübergang
Erosionsschäden bei Tropfenbildung im Turbinenbereich
Schäden an allen Baugruppen, die nicht für die erhöhte Leistung ausgelegt sind


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2.2.3.2 Hohlgegossene Niederdruck-Turbinenschaufeln
Die Hohlräume dienen nicht der Schaufelkühlung, sondern der Gewichtseinsparung.

Risiken:
In den Hohlräumen treten, bei nicht vorhandenem oder geringem Gasaustausch, katastrophale Schäden durch Hochtemperaturkorrosion auf
Innenbeschichtungen (Diffusionsschichten) können den Angriff verzögern, die Beschichtung und vor allem die Wiederbeschichtung sind jedoch problematisch


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2.3 Sonstige Risiken

2.3.1 Titanbauteile im Verdichter
dienten ursprünglich der Gewichtsersparnis in Flugtriebwerken und sind in Aeroderivativen weit verbreitet. Neuerdings werden Titanbauteile auch in rein Stationären Gasturbinen verwendet.

Risiko:
Titanlegierungen können sich durch eine Initialzündung, z.B. durch Anstreifen, entzünden und explosionsartig verbrennen - "Titanfeuer". Titanbeschaufelungen und dünnwandige Gehäuse verbrennen innerhalb weniger Sekunden

Die Bedingungen für die Entstehung von Titanfeuer sind äußerst komplex. Erhöhtes Risiko besteht grundsätzlich bei:

Statischen Bauteilen aus Titanlegierungen, an die rotierendeTeile anstreifen können: Gehäuse, Labyrinthdichtungen
Wenn Rotor- und Statorbeschaufelung aus Titan bestehen
Dünnwandigen Bauteilen

Titanlegierungen mit hohem Aluminiumgehalt, z.B. Ti6AL4V sind weniger gefährdet. Spezielle Schutzschichten, z.B. auf Aluminium- oder Keramikbasis, können Titanfeuer eindämmen bzw. verhindern.

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2.3.2 Sequentielle Verbrennung
Andere Bezeichnungen:
Sequential Combustion
Zwischenverbrennung

Nach der ersten Turbinenstufe folgt eine zweite Brennkammerstufe, wodurch relativ hohe Leistung und Wirkungsgrade bei relativ niedriger TIT erreicht werden. Die Technologie wurde direkt für Stationäre Gasturbinen entwickelt, ohne vorherige Optimierung in Flugtriebwerken.

Risiken:
Völlig neue Technologie, mit der bisher keine Erfahrungen vorliegen
Auf den Markt kommen zunächst Prototypen, die erst noch durch Betriebserfahrung optimiert werden müssen


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2.3.3 Gasturbinen in Verbindung mit Kohle-, Schweröl- oder Rückstandsöl-Vergasungsanlagen
Andere Bezeichnungen:
IGCC Integrated Gasification Combined Cycle
PFBC Pressurized Fluidized Bed Combustion
CGCC Coal Gasification Combined-Cycle
CCCS Clean Coal Combustion System
Prenflo - Verfahren

Zu den verschiedenen Vergasungskonzepten gibt es inzwischen in mehreren Staaten Versuchsanlagen und Prototypen.

Die so gewonnenen Brenngase können - je nach Verfahren - extrem erosive/korrosive Bestandteile enthalten. Risikoanalyse und -bewertung müssen die gesamte Anlage mit einbeziehen. Eine Risikobewertung allein mit MORITZ ist derzeit nicht sinnvoll.

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